IMI-Analyse 2025/29 - in AUSDRUCK September 2025

Veränderung und Umwandlung

Hintergründe zur Selbstauflösung der PKK

von: Rojda Akkaya | Veröffentlicht am: 9. September 2025

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Praktisch seit seiner Gründung führt der türkische Staat einen blutigen Konflikt wechselnder Intensität gegen die kurdische Bevölkerung. Ihm gegenüber stand seit den 1970er Jahren die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als wichtigste Organisation des kurdischen Widerstands. Der 27. Februar 2025 markiert nun ein neues Kapitel in der Geschichte der Kurd:innen. Es ist der Tag, an dem Abdullah Öcalani, der Gründer der PKK zugleich Ideologe und Philosoph der Demokratischen Moderne, seinen „Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ gemacht hat. Darin hat Abdullah Öcalan die PKK aufgerufen, sich selbst aufzulösen und die Strategie des bewaffneten Kampfes zu beenden. Doch was waren die Gründe für diesen Aufruf?

Kampf um die Existenz

Um zu verstehen, weshalb sich die PKK auflöst und um die Tragweite dieser Entscheidung einzuschätzen, ist es wichtig, die historischen Bedingungen zu verstehen, unter denen die Organisation ursprünglich gegründet wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg verfolgten insbesondere England und Frankreich das Ziel, ihre Kontrolle im Mittleren Osten durch die Errichtung von Nationalstaaten zu sichern. 1923 wurden unter ihrem Einfluss neue Grenzen gezogen, wodurch Kurdistan auf die Staaten Türkei (Nordkurdistan), Iran (Ostkurdistan), Irak (Südkurdistan) und Syrien (Westkurdistan bzw. Rojava) aufgeteilt wurde.

Doch es blieb nicht bei der Teilung – es begann eine brutale Politik der Verleugnung. Die Existenz der Kurd:innen, eines der ältesten Völker der Region, wurde abgestritten. Rechte, die sie im Osmanischen Reich noch hatten, wurden aberkannt. Dies führte zu zahlreichen Aufständen, angeführt von Stammesführern in Kurdistan. Jeder dieser Aufstände wurde mit äußerster Gewalt, oft mit Genoziden, bekämpft. Nach der Niederschlagung des letzten großen Aufstands in Nordkurdistan 1937 begann eine Phase systematischer Leugnung der kurdischen Existenz, besonders brutal im türkischen Staat. Diese Zeit – von 1937 bis in die 1970er Jahre – wird als „Todesstille“ bezeichnet.

In den 1970er Jahren formierte sich in Nordkurdistan eine Gruppe von Student:innen um Abdullah Öcalan, um eine Antwort auf die Kurdische Frage zu finden. Ihre Analyse lautete: „Kurdistan ist eine Kolonie.“ In einem Kontext von Unterdrückung und Identitätsverleugnung gründete sich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), beeinflusst von den sozialistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Ihr Ziel war es, die Existenz des kurdischen Volkes zu sichern und ein freies Leben zu ermöglichen. Anfangs war die Errichtung eines eigenen Nationalstaats das zentrale Mittel dieses Kampfes.

Gescheiterte Verhandlungsversuche in den 1990er Jahren und Krieg

Aufgrund der zunehmenden Angriffe (Festnahmen, Folter, Attentate und Massaker an der Bevölkerung) nach der Gründung der PKK, sah sich die Organisation gezwungen, zum Zwecke der Selbstverteidigung zu den Waffen zu greifen. 1984 begann sie offiziell den bewaffneten Guerilla-Kampf. Doch schon 1993 erklärte die PKK einen einseitigen Waffenstillstand – als ersten Versuch, die Kurdische Frage auf politischem Weg zu klären. Der damalige türkische Staatspräsident Turgut Özal reagierte positiv auf den Waffenstillstand. Doch noch bevor eine Verhandlungsphase beginnen konnte, starb Turgut Özal unter dubiosen, ungeklärten Umständen.

Auch weitere Waffenstillstände wurden immer wieder verhindert. Die Kriegslobby und der tiefe Staat2 schienen der Hauptgrund dafür zu sein, dass sich der Krieg Jahr für Jahr zuspitzte. 1993 bis 2013 waren Jahre eines sich ständig wiederholenden Kreislaufes zwischen Waffenstillständen, Sabotageaktionen und Krieg. Die Jahre 2015-2025 waren der Höhepunkt dieses Krieges: Zehn Jahre ununterbrochener Krieg in fast allen Teilen Kurdistans; Angriffe der IS auf Şengal und Rojava3, Attentate auf Aktivist:innen und Politiker:innen in Südkurdistan und Nordkurdistan, Festnahmen von Politiker:innen in allen Teilregionen. Es sind genau diese Jahre, in denen der türkische Staat seine Kriegstechnologie mithilfe von internationalen und deutschen Firmen wie Rheinmetall und Bayer perfektioniert hat. Türkische Luftangriffe durch Kampfflugzeuge und Drohnen wurden zum Alltag. Seit 2020 wurde auch vermehrt Giftgas gegen die Guerilla eingesetzt. In dieser Phase hat der Krieg ein neues Level erreicht und die Türkei und ihre Kriegslobby haben ihre Kriegspolitik direkt und indirekt auf alle Teile Kurdistans ausgeweitet. Die türkische Armee ist in Südkurdistan faktisch eine Besatzungsmacht mit ständiger Präsenz in über 40 Militärposten geworden.

Vom internationalen Komplott zum „neuen Paradigma“

Eine der größten Sabotageaktionen für die kurdische Bevölkerung war das internationale Komplott gegen Abdullah Öcalan unter Beteiligung vieler westlicher Geheimdienste und Stay-behind-Organisationen (siehe tiefer Staat).4 Am 15. Februar 1999 wurde Öcalan auf dem Weg nach Südafrika in Kenia verschleppt und auf die Gefängnisinsel Imrali in der Türkei gebracht. Die kurdische Bevölkerung spricht von einer „Geiselnahme“, da seine Festnahme als Angriff auf ihren Widerstand und politischen Willen verstanden wird. Der Konflikt verschärfte sich in der Folge in allen Teilen Kurdistans und auch in Europa. Die Festnahme zielte darauf ab, die PKK zu zerschlagen und eine Lösung der Kurdenfrage zu verhindern – im Interesse westlicher Hegemonialmächte, die vom andauernden Krieg im Mittleren Osten profitierten.

Dieses Ziel wurde allerdings verfehlt. Stattdessen arbeitete Öcalan auch in Haft an der Weiterentwicklung der ideologischen Perspektive der PKK. Denn mit dem Zerfall der Sowjetunion begann auch hier eine Phase der Hinterfragung der klassisch sozialistischen Modelle, des Nationalstaats und der Gründe für das Ende des Realsozialismus. Vor allem Themen wie Demokratie, Freiheit, Staat und die Geschlechterfrage wurden, angestoßen von Öcalan, in der kurdischen Bewegung tiefgründig analysiert. Seine Perspektiven haben sich dann zu Beginn der 2000er Jahre verfestigt: die Errichtung vieler Nationalstaaten ist ein Mittel der hegemonialen Mächte des Westens, um die Bevölkerungen zu spalten und die Region für die eigenen kapitalistischen Zwecke auszunutzen. Das Ergebnis sind Kriege, Verwüstungen, Plünderungen und dauerhafte Konflikte aufgrund willkürlich gezogener Grenzen. Die bis heute andauernden Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen Armenien-Aserbaidschan, Palästina-Israel, Pakistan-Afghanistan sowie um Kurdistan zeigen genau das. Das Nationalstaatssystem in der Region bedeutet Krieg. Diese Einsicht brachte Abdullah Öcalan dazu, vom Nationalstaatensystem abzurücken und ein ‚Neues Paradigma‘ für die Freiheit und den Frieden zu entwickeln. Dieses Paradigma fußt auf drei Säulen (Freiheit der Frau, Ökologie und Demokratie) und hat die Errichtung autonomer Strukturen (Demokratischer Konföderalismus) und einer willensstarken politisch-moralischen Gesellschaft zum Ziel.

Der Beginn einer Phase der Verhandlung?

In der Phase von 2015-2024 befand sich Abdullah Öcalan in einer Totalisolation, in der er außer einigen wenigen Besuchen seiner Anwälte keinen Kontakt nach Außen haben durfte. Im Oktober 2024 leitete der Aufruf des einflussreichen türkischen Regierungspolitikers und Verbündeten von Präsident Erdoğan, Devlet Bahçelisv eine neue Phase ein: Abdullah Öcalan solle die PKK auflösen, seine Freilassung im Rahmen des sogenannten „Rechts auf Hoffnung“ beantragen und auf einer Parteigruppensitzung der großen kurdischen Oppositionspartei DEM (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker) in der Großen Nationalversammlung der Türkei sprechen. Diese Aussagen markierten einen überraschenden Strategiewechsel im außenpolitischen Diskurs von Bahçelis Partei MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung). Doch was bewegte ihn zu dieser Aussage?

Politisch und wirtschaftlich steckt die Türkei in einer schwierigen Phase. Seit dem 7. Oktober 2023 strebt Israel im Nahen Osten nach Vorherrschaft, was sowohl für die Türkei als auch für den Iran zur Bedrohung wird. Darüber zeigt sich die türkische Elite zunehmend besorgt. So warnt etwa Devlet Bahçeli vor Israels Einfluss in der Zypern- und Kurdenfrage – hinter dem das Ziel stecke, Handelsrouten zu kontrollieren und die Macht der Türkei zu schwächen. Angesichts dieser Entwicklung betont er, dass der türkische Staat ohne eine Lösung der Kurdenfrage zerfallen könnte.

So kam es dazu, dass Abdullah Öcalan in dieser politischen Dynamik eine Möglichkeit sah, einen juristischen und politischen Weg durchzusetzen. Am 27. Februar rief er die PKK zur Beendigung der Strategie des bewaffneten Kampfes und zur Selbstauflösung auf, um eine mögliche Phase der Verhandlungen und anschließend des Friedens einleiten zu können. Diesem Aufruf folgte die PKK und rief am 1. März einen einseitigen Waffenstillstand aus. In der Zeit vom 5-7. Mai fand der 12. Kongress der PKK statt, in der die Organisation ihren eigenen Willen zur Auflösung bekräftigte. Am 12. Juli gab es eine symbolische Zeremonie in der 30 Guerillakämpfer:innen ihre Waffen verbrannten.

Allerdings gibt es für diese Phase eine wichtige Bedingung in Abdullah Öcalans Erklärung, um überhaupt von einer Verhandlungsphase zu sprechen: „Zweifellos erfordern die Niederlegung der Waffen und die Auflösung der PKK in der Praxis eine demokratische Politik und die Anerkennung der juristischen Grundlage.“ Diese Phase könnte trotz aller Gefahren einen historischen Wandel für die kurdische Bevölkerung bedeuten. Doch dafür müsste zunächst die Verfassung verändert werden.

Der nächste wichtige Schritt ist daher die Bildung einer Kommission aus allen Parteien im türkischen Parlament, die eine Verfassungsänderung erarbeiten soll, um sowohl den Status der Kurd:innen als auch ihr Recht auf eine demokratische Politik anzuerkennen.

Demokratische Gesellschaft

Neben der aktuellen politischen Situation ist einer der Hauptgründe für die Selbstauflösung der PKK, dass der nun seit 52 Jahren andauernde Kampf seine Aufgabe erfüllt hat: Die politische Anerkennung der Kurd:innen – und besonders die ‚Selbstanerkennung‘ der Kurd:innen. Ein Großteil der Kurd:innen hat ein politisches und historisches Bewusstsein für ihre Identität erlangt. Sie verstehen sich als politische Akteure, als Gesellschaft und als Subjekte des Aufbaus dieser Gesellschaft. Doch jetzt steht die kurdische Bevölkerung vor neuen wichtigen Fragen: Wie können wir uns als alternatives System unabhängig vom Staat institutionalisieren? Wie bauen wir ein ökologisches Wirtschaftssystem auf? Wie können wir demokratische Bildungseinrichtungen etablieren und mit welchen Methoden können wir Antworten auf die gesellschaftlichen Probleme finden? Und die allerwichtigste Frage: Wie verteidigen wir uns in Zukunft selbst? Die Suche nach politischen Lösungen bedeutet nicht, dem Staat zu vertrauen und die Selbstverteidigung (sowohl psychisch, kulturell als auch physisch) beiseite zu schieben. Selbstverteidigung bedeutet hier an erster Stelle Organisierung und Bewusstsein.

Die kurdische Bewegung setzt die demokratische Gesellschaft als Programm. Eine Phase des Friedens und der demokratischen Gesellschaft im Mittleren Osten einzuleiten, bedeutet sowohl mit der Türkei als auch dem Irak, dem Iran und Syrien offizielle Verhandlungen zu führen. Das wiederum würde heißen, dass der Status der Kurd:innen anerkannt wird, dass in allen vier Staaten aktive juristische und politische Arbeit geleistet werden kann, um die jeweilige Verfassung zu ändern und zu demokratisieren. Die Kurd:innen sind dann nicht mehr nur Subjekte ihres Seins, sondern auch Subjekte bzw. direkte Akteure für den Frieden im Mittleren Osten.

Würdevoller Frieden für Kurdistan und die gesamte Region

Ist jedes Ende wirklich ein Ende? Oder der Beginn einer neuen Phase, einer neuen Form? Heraklit von Ephesos erklärt, dass sich alles ständig verändert und nichts bleibt, wie es ist: „Das Einzige, was konstant ist, ist die Veränderung.“ Das gilt besonders für die sich im ständigen Wandel befindende Gesellschaft. Und deshalb ist es aus Sicht der kurdischen Bewegung auch ein Prinzip, nach dem sich alle revolutionären Bewegungen und gesellschaftlichen Organisierungen richten sollten: Veränderung und Umwandlung, wenn es die geschichtlichen und soziologischen Veränderungen notwendig machen; nicht stehen bleiben und auch nicht starr auf demselben Weg weiterlaufen. Und das in dem Bewusstsein, dass das historisch-gesellschaftliche Erbe im Jetzt noch weiterlebt und auch in Zukunft eine Basis für den Aufbau der Gesellschaft sein wird.

Die Kurd:innen stehen heute vor einer neuen Phase ihres Freiheitskampfes: der demokratischen Politik. Die Selbstauflösung der PKK markiert einen Neubeginn, mit dem Fokus auf Frieden und dem Aufbau autonomer Gesellschaftsstrukturen. Der Krieg stand diesem Wandel lange im Weg und verhinderte die Entwicklung demokratischer Strukturen, da die gesamte Gesellschaft ihre ganzen Bemühungen in den Selbstverteidigungskrieg investierte, statt in den Aufbau eines alternativen Systems. Abdullah Öcalan spricht davon, dass die einzige Lösung für die Völker der Region ein ‚würdevoller‘ Frieden ist. Frieden bedeutet nicht Kapitulation, Resignation und Assimilation. Frieden bedeutet die Fähigkeit, alte Methoden zu überwinden, im Innern neue demokratischere Strukturen zu schaffen, und zum Schutze dieser Strukturen für die Veränderung der Verfassungen der jeweiligen Staaten zu kämpfen. Frieden bedeutet weder, eine Kopie des Nationalstaates zu werden, noch sich ihm zu fügen. Es ist die Kunst, das eigene alternative Modell trotz all der Hindernisse ins Leben zu rufen. Deshalb kann man davon ausgehen, dass der Kampf der kurdischen Bevölkerung auch in Zukunft auf allen gesellschaftlichen Ebenen und international weitergeführt werden wird.

Anmerkungen:

1 Abdullah Öcalan wird von Millionen von KurdInnen als Repräsentant des Freiheitskampfes der KurdInnen angesehen. In der kurdischen Bevölkerung ist auch der Begriff ‚Rêber‘ gängig – was so viel bedeutet wie ‚Wegweisender‘.

2 Siehe dazu: Söyler, Mehtap (2015): The Turkish Deep State: State Consolidation, Civil-Military Relations and Democracy. Routledge. https://doi.org/10.4324/9781315769226

3 Rojava bedeutet auf Kurdisch ‚Westen‘ und ist der Teil Kurdistans in der Region Nordsyrien.

4 Siehe dazu: https://kurdistan-report.de/ein-komplott-mit-vielen-akteuren/

5 Devlet Bahçeli ist der Vorsitzende der rechtsextremen türkischen Partei Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), auch bekannt als die Partei der Nationalistischen Bewegung. Seit den späten 1990er-Jahren prägt er die türkische Politik maßgeblich mit und ist heute ein zentraler Verbündeter des türkischen Präsidenten Erdoğan.